Vor fast 5 Jahren bin ich wieder aufs (eigene) Pferd gekommen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt gut 20 Jahre Reit- und Pferdeerfahrung, ich wusste, worauf ich beim Pferdekauf achten muss, ich wusste auch, was mir wichtig war. Ein Wallach sollte es sein. Stockmaß 150-160cm, damit ich mit meinem kaputten Knie im Zweifel auch vom Boden in den Sattel komme. Rassepräferenzen hatte ich nicht, aber da ich nun nicht gerade eine elfengleich zierliche Idealfigur mein Eigen nenne, tendierte ich zu einem Pferd stabilerer Bauart. Noriker, Criollo, Freiberger, das war so die grobe Richtung. Das Pferd sollte gesund sein und zumindest grundlegend ausgebildet. Ganz jung sollte es nicht sein, aber auch noch nicht kurz vor der Rente. So also der Plan.

Dann traf ich J. Damals 7 Jahre alt, kurz zuvor aus Spanien importiert. Physisch runtergerockt, psychisch ein Wrack. Und ich entschied wider besseres Wissen, dass ich genau dieses Pferd haben wollte. Dass ich ihm eine Chance geben wollte. Ich ließ ihn röntgen, so viel Absicherung musste sein. Aber dann stand ich da mit einem fast 170cm großen, dürren und völlig verunsicherten Hispanoaraber. In seinem Pass waren bereits mehrere Eigentümer vermerkt, er war mit seinen 7 Jahren im Durchschnitt nie länger als ein Jahr in einer Hand verblieben. Seine prägnante Narbe auf der Nase ließ Rückschlüsse auf die Ausbildung in seinem Heimatland zu und das, was ich durch Fotos und eigenes Erleben sonst noch beurteilen konnte, sprach ebenfalls Bände.

Dieses Pferd hatte den Menschen nicht als vertrauenswürdigen Partner kennengelernt und für sich schon beschlossen, sich aus allem rauszuhalten. Kein Kontakt, kein Vertrauen, keine Neugier. Rückzug ins Innere und hoffen, irgendwie zu überleben.

Zum Glück hatte ich gleich mit dem ersten Stall einen Volltreffer gelandet. Auf dem Gudehof in Arlewatt konnte J ankommen und einfach Pferd sein. Der großzügige Offenstall und die Gruppenhaltung kamen ihm entgegen, so dass er zumindest Artgenossen gegenüber schnell auftaute und den gehetzten Blick verlor. Das Konzept „eigener Mensch“ war ihm dagegen nach wie vor suspekt, wer konnte es ihm verübeln.

Schnell wurde klar, dass ihm selbst der grundlegende Umgang am Boden mit dem Menschen fremd war und Angst machte. Er wich beim Aufhalftern aus. Er wich beim Führen so weit aus wie nur möglich. Wenn er sich überhaupt führen ließ. Oft genug blieb er einfach wie angewurzelt und mit aufgerissenen Augen stehen. Dafür wollte er angebunden nicht stehen bleiben. Er wollte nicht geputzt werden und er kannte es nicht, die Hufe zu geben. Ich wusste, dass in den Monaten seit seinem Import niemand seine Hufe bearbeitet hat. Und so, wie er auskeilte, wenn man ihn unter Druck setzte, bekam ich eine ungefähre Ahnung davon, weshalb.

Mir wurde bewusst, dass ich am besten grundsätzlich davon ausging, dass J nichts kannte. Je weniger ich als gegeben voraussetzte, umso entspannter konnte ich unser Miteinander gestalten. Ich bin Hundetrainerin, ich kenne mich mit klassischer und operanter Konditionierung aus, ich weiß, wie ich ein Verhalten einfangen, formen und festigen kann. Letzten Endes gelten die Grundsätze der Lerntheorien für uns alle. Egal, ob Mensch, Hund oder Pferd. Aber an Training, wie es landläufig verstanden, um- und vor allem durchgesetzt wird, war bei J nicht zu denken. Sein Organismus war im Überlebensmodus, er hatte gar keine Kapazität, sich auf irgendetwas anderes einzulassen. Und wer bin ich, dass ich mir erlauben könnte, ein ohnehin schon traumatisiertes Pferd noch weiter unter Druck zu setzen, nur um irgendwelchen Erwartungen zu entsprechen? Ich bekam in dieser Zeit viele Ratschläge. Sinnvolle, aber größtenteils sinnlose. Das Pferd lässt sich nicht führen? Mach dem mal gefälligst Druck, der testet doch nur. Das Pferd lässt sich nicht reiten? Mach dem mal Druck, der hat zu lernen, wer das Sagen hat. Das Pferd steht nicht still am Anbinder? Ich zeig Dir mal, wie ich das mache, danach rührt der sich ohne Erlaubnis keinen Zentimeter mehr.

Ich reagiere auf so etwas nicht besonders freundlich. Und ich setze derartige Trainingsvorschläge nicht um. Ich ziehe sie nicht einmal in Betracht. Ja, ein Pferd ist ein Tier, das im direkten Umgang mit dem Menschen ein gewisses Benehmen lernen muss. Sonst wird es für alle Beteiligten gefährlich. Aber mit Druck und Strafe erreiche ich nur eines: das Pferd lernt, dass seine Angst berechtigt war. Das ist keine Basis für ein vertrauensvolles Miteinander. Denn es wird immer etwas geben, vor dem das Pferd noch mehr Angst hat als vor mir und dem, was der Markt an Ausrüstungsgegenständen bereithält.

Mein Wunsch, mein Trainingsziel, war klar. J sollte die Möglichkeit bekommen, wieder Vertrauen zu fassen. Gleichzeitig war es mir wichtig, dass jeder, der mit ihm zu tun hatte, ihm vertrauen konnte. Die grundlegende Sicherheit im Umgang am Boden hatte Priorität. Alles andere konnte warten, bis J signalisierte, dass er bereit für einen nächsten Schritt war.

Ich hatte ihm ein Versprechen gegeben an das ich mich halte. Wenn er möchte, gehen wir unseren Weg gemeinsam. Ohne Erwartungen, ohne Druck, in einem Tempo, das für uns beide richtig ist.